«Ich finde es reizvoll, etwas Neues zu kreieren»

Florence Aellen nutzt ihren stark analytischen Background, um mit ihrer UniBE Venture Fellowship eine konkrete KI-Anwendung für die Medizin zu entwickeln. Sie arbeitet an einer Softwarelösung, die Ärztinnen und Ärzten hilft, den Gesundheitszustand von Menschen im Koma besser einzuschätzen.

Florence Aellen betrachtet EEG-Daten

Florence Aellen, worum geht es in Ihrem Projekt?
Mein Projekt sagt auf der Basis von Hirnwellen, gemessen durch eine Elektroenzephalografie (EEG), voraus, wie hoch die Chancen sind, dass eine komatöse Person überlebt. Das ist für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und die Familien extrem wichtig. Ich habe während meiner Doktorarbeit unter der Leitung von Prof. Athina Tzovara an einem KI-Algorithmus gearbeitet, der eine solche Vorhersage zuverlässig treffen kann. Das Ziel der Venture Fellowship ist es nun, diesen Algorithmus in eine Software einzubinden und als Produkt ins Spital zu bringen.

Was ist genau das Problem, das Sie lösen wollen?
Ärztinnen und Ärzte brauchen heute verschiedenen Methoden, um den Ausgang eines Komas zu bestimmen. Manche beruhen auf EEG, andere nicht (zum Beispiel Pupillen-Reflexe). Beim EEG werden die Daten auf der Grundlage von visuellem Fachwissen evaluiert: Zum Beispiel beobachtet ein Arzt oder eine Ärztin das EEG und beurteilt, die Auswirkung eines Klatschgeräusches neben dem Patienten auf dessen Hirnaktivität. Dieses Vorgehen ist nicht objektiv und sehr zeitintensiv. Dazu kommt, dass die Überlebenschancen anhand vieler verschiedener Marker (Faktoren) beurteilt werden. Für manche Patienten und Patientinnen können so keine klaren Aussagen gemacht werden, weil die Ergebnisse widersprüchlich sind. Der Algorithmus, den ich entwickelt habe, ist dagegen standardisiert und objektiv. Und wir konnten zeigen, dass unser System auch bei diesen zurzeit unklaren Fällen eine sehr gute Vorhersage treffen kann.

Welchen Mehrwert bringt Ihre Innovation?
Unser Projekt bietet mehrere Vorteile: Für die Familien ist es sehr wichtig, eine möglichst ehrliche und realistische Einschätzung zu den Überlebenschancen ihrer Angehörigen zu bekommen. Für Spitäler geht es auch um eine bessere Planung. Komapatienten benötigen viele Ressourcen und diese werden nur dann aufrechterhalten, wenn die Prognose gut ist. Aktuelle Studien zeigen, dass einige Komapatienten, die nach drei Monaten noch in einem Koma liegen, sich mit sechs Monaten komplett und ohne kognitive Einschränkung erholen können. Mit unserem System könnten potenziell diejenigen Patienten identifiziert werden, die diese zusätzliche Zeit zur Erholung brauchen. Und damit könnten Menschenleben gerettet werden.

Was ist Ihre Expertise im Projekt?
Ich habe einen sehr theoretischen Background mit Mathematik (im Bachelor) und theoretischer Physik (im Master) und einem PhD in Informatik. Während meiner Doktorarbeit war ich mit dem Institut für Informatik und mit dem Zentrum für experimentelle Neurologie des Inselspitals doppel-affiliiert. So kann ich Wissen über den Ursprung und die Beschaffenheit der Daten wie auch über die technischen Instrumente zur Datenanalyse, wie der künstlichen Intelligenz, kombinieren. Diese Kompetenzen bilden den Grundbaustein des Projektes.

Wie kommen Sie von theoretischer Physik zu so einer Anwendung?
Theoretische Physik fand ich sehr spannend! Nach dem Master war für mich aber klar, dass ich etwas mit einer konkreten Anwendung machen möchte. Mich reizte das Programmieren und es war gerade die Zeit, in der KI richtig aufkam. Als ich die Ausschreibung für den PhD mit KI und der Anwendung auf EEG-Daten sah, war das genau das Richtige.

Kann man den Vorhersagen einer KI vertrauen?
In unserer Studie zeigen wir, dass wir aufgrund einer grossen Kohorte mit Daten von über 10 Jahren sehr gute Vorhersagen liefern können. Allerdings sollte man einer KI nie allein vertrauen. Sie ist eher eine Zweitmeinung. Gerade bei derart wichtigen Entscheidungen muss das letzte Wort immer bei einem Menschen mit Fachexpertise liegen. Wir können mit KI mehr Informationen aus den Daten extrahieren, diese besser darstellen und den ganzen Prozess beschleunigen, aber am Ende liegt die Entscheidung immer beim medizinischen Personal.
Ich glaube an unsere Anwendung und sehe grosses Potenzial, Ärztinnen und Ärzten sowie Familien von Betroffenen bessere Entscheidungen zu ermöglichen und ihre emotionale Last zu verringern.

Portrait Florence Aellen

Florence Aellen forscht im Team der Cognitive Computational Neuroscience unter Leitung von Athina Tzovara mit KI zum Thema Hirnfunktionen.

Was reizt Sie daran, Unternehmerin zu werden?
Ich finde es reizvoll, etwas Neues zu kreieren. Es muss etwas sein, dass Gutes tut und der Gesellschaft einen neuen Nutzen bringt. Insofern sehe ich mich als CTO eines Startups.
Was mich ausserdem motiviert, ist, etwas von Grund auf aufzubauen und zu gestalten. Etwa in einem Jungunternehmen selbst entscheiden zu können, was die Werte und Strukturen sind und so letztlich anderen eine Arbeit zu geben, wie man sie selbst gerne hätte. Ich möchte ein stimulierendes Arbeitsumfeld generieren.

Und wie kommt die UniBE Venture Fellowship dabei ins Spiel?
Vor der Fellowship war meine Energie stark auf die Forschung konzentriert. Jetzt habe ich die Zeit, aus unserem Algorithmus eine Softwarelösung als «minimal viable product» zu entwickeln - etwas, das man zeigen und womit man zu potenziellen Anwendern gehen kann.
Ausserdem geht es darum, herausfinden, wie gut das Produkt in den Markt passt. Um Fragen wie: Kann das bestehende Problem auf diese Art gelöst werden? Und wie gelangt die Innovation zu den Endnutzenden? Dabei erhalte ich sehr guten Support vom Innovation Office in allen meinen individuellen Fragestellungen.

Was sind Ihre persönlichen Herausforderungen auf dem Weg ins Unternehmertum?
Ich bin ein neugieriger Mensch und immer interessiert, Neues zu lernen. Während meiner bisherigen Laufbahn habe ich nicht davor zurückgescheut, inhaltlich komplett umzuschwenken und ein anderes Feld zu erkunden. Das brauchte Mut.
Trotz dieser Sicherheit mir selbst gegenüber, finde ich es eine Herausforderung, aus mir herauszugehen und meine Begeisterung gegenüber anderen zu kommunizieren. Ich bin eher schüchtern, und versuche nun, mich dieser Herausforderung zu stellen. Wenn man von Natur aus nicht sehr kontaktfreudig ist, braucht es Zeit, sich dabei wohlzufühlen, auf Leute zuzugehen. Aber ich denke die Fellowship ist eine wunderbare Gelegenheit, auch hier zu wachsen.

Venture Fellowship

Das Venture Fellowship Programm der Universität Bern

Das Venture Fellowship Programm der Universität Bern ermöglicht jährlich vier Jungforscherinnen und Jungforschern während eines Jahres ihre translationale Forschung weiterzuführen, um die technische Machbarkeit (Proof-of-Concept) ihrer Projekte zu prüfen und die Vermarktung entsprechend vorzubereiten. Das Innovation Office der Universität Bern unterstützt sie dabei mit Beratung, Mentoring und Vernetzung, in Kooperation mit be-advanced – der Startup-Coaching Plattform des Kantons Bern. Die mit je 100'000 Franken dotierten Fellowships werden gemeinschaftlich finanziert durch die Universität Bern, das ARTORG Center for Biomedical Engineering Research und das Inselspital. Ferner unterstützt das Institut für Geistiges Eigentum (IGE) das Programm mit begleiteten Patentrecherchen und Patentumfeldanalysen. Der nächste Aufruf zur Einreichung von Vorschlägen wird im September 2025 veröffentlicht.