Erschütterungen – FS 2024
Ob Extremwetterereignisse, Kriege oder Katastrophen: Wir sind erschüttert, wenn wir von den Krisenerfahrungen unserer Zeit hören, und erst recht, wenn wir von ihnen direkt betroffen sind. Dabei meint der Begriff der Erschütterung nur selten, dass wir im physischen Sinne durchgeschüttelt oder wie bei einem Beben hin und her gerüttelt werden.
Viel öfter geht es darum, dass Selbstverständlichkeiten auf schmerzhafte Weise infrage gestellt werden oder dass in einem metaphorischen Sinn ein Fundament ins Wanken gerät. Doch wo genau sprechen wir eigentlich von Erschütterungen? Was haben psychische Erschütterungen mit den erschütternden Wirkungen eines Erdbebens gemeinsam? Wie wird der Begriff in den Wissenschaften verwendet? In der Ringvorlesung zeichnen Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen ein umfassendes Bild von Erschütterungen nach.
Programm "Erschütterungen"
Podcasts der Reihe "Erschütterungen"
Vorlesungen der Reihe "Erschütterungen"
Wozu Erschütterungen? Überlegungen zum Selbstverständnis von Personen, Institutionen und Wissenschaften
Prof. em. Dr. Dr. Paul Hoff
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
21. Februar 2024
Mein Beitrag zum Thema 'Erschütterungen' ist der eines Psychiaters und Psychotherapeuten. Dabei möchte ich allerdings die Aufmerksamkeit auf jenes (ausgedehnte) Grenzgebiet lenken, das 'zwischen' krisenhaften Zuspitzungen im Leben, vor der sich jede Person irgendwann gestellt sieht, und psychischen Erkrankungen im engeren Sinne liegt. Einer der einflussreichsten Denker unseres Faches, Karl Jaspers, hat in diesem Zusammenhang von der 'Grenzsituation' als bestimmendem Momentum der conditio humana gesprochen. Dies werde ich zunächst erläutern und mit zwei Fallvignetten illustrieren. Im Anschluss möchte ich - am Beispiel ausgewählter konzeptueller Umbrüche in der Wissenschaftsgeschichte - zeigen, dass Erschütterungen auch jenseits des individuellen Erlebens vorkommen und für das Selbstverständnis von Institutionen und Wissenschaften nachhaltig prägend sein können.
Erdbebenerschütterungen und die menschliche Geschichte
Prof. Dr. Domenico Giardini
Institut für Geophysik, ETH Zürich
28. Februar 2024
Erdbeben sind eines der stärksten Naturphänomene unseres Planeten. Sie können fast überall und ohne Vorwarnung auftreten, und ihre Erschütterungen können verheerende Folgen für die menschliche Gesellschaft haben und sogar ihre Geschichte beeinflussen. In diesem Vortrag werden wir untersuchen wo und warum sie auftreten, wie wir ihre Wahrscheinlichkeit und ihren möglichen Ort einschätzen, wie Erdbeben im Laufe der Geschichte wahrgenommen wurden und wie sie sich auf Kunst und Philosophie ausgewirkt haben, warum Erdbebenschäden nach wie vor so katastrophal sein können, welche Gefahr die zunehmende Verstädterung mit sich bringt und wie unsere Gesellschaft versucht, das von Erdbeben ausgehende Risiko für unsere gebaute Umwelt zu verringern.
Der Einfluss von Katastrophen und Extremereignissen auf die Politik
Prof. Dr. Karin Ingold
Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern
6. März 2024
Wie reagiert die Politik auf Katastrophen wie Überschwemmungen, Nuklearunfälle, oder Ähnliches? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, zuerst zu überlegen, wie einzelne Individuen auf solche Katastrophen reagieren. Denn oft sind nur Teile der Bevölkerung direkt von den Auswirkungen von Katastrophen betroffen: reicht dies aus, um politische Massnahmen zu rechtfertigen, welche die gesamte Bevölkerung tragen müssen? Im ersten Teil meines Vortrages gehe ich also Fragen der Gerechtigkeit und der Legitimität politischen Handelns nach, bevor ich im zweiten Teil erläutere, welche Möglichkeiten das politische System hat, auf Katastrophen zu reagieren. Dabei werden wir gemeinsam Beispiele aus der Hochwasserschutz- und der Energiepolitik der Schweiz genau beleuchten.
Intime Unsicherheiten in der globalen Fruchtbarkeitsindustrie
Prof. Dr. Carolin Schurr
Geographisches Institut, Universität Bern
13. März 2024
Ukrainische Leihmütter in Zeiten des russischen Angriffskrieges, migrantische Eizellenspenderinnen in Spaniens Fruchtbarkeitsindustrie oder Schweizer Wunscheltern, die nach Mexiko reisen, um sich dort ihren Traum vom Wunschkind zu ermöglichen – sie alle sind Beispiele für die zunehmende Transnationalisierung von Reproduktion in globalen Fruchtbarkeitsmärkten. Der Vortrag zeichnet anhand verschiedener Fallstudien nicht nur die intimen Unsicherheiten auf, mit denen Wunscheltern, Leihmütter und Eizellenspenderinnen in dieser globalen Fruchtbarkeitsindustrie konfrontiert sind, sondern beschäftigt sich mit den geopolitischen Konstellationen dieses globalen Markts. Mit Hilfe des Konzepts der Reproduktiven Geopolitik geht der Vortrag der Frage nach, welche Gruppen zum Kinderkriegen ermutigt werden im Namen der zukünftigen Nation und welche entmutigt werden oder ein Kinderwunsch sogar verweigert wird. Der Zugang zu Reproduktionstechnologien und reproduktiver Gesundheit sagt viel darüber aus, wie viel Wert einem (zukünftigen) Leben zugeschrieben wird (Butler 2004; Fassin 2007, 2009). Während einige das "Ende der staatlichen Biopolitik" (Rose 2001) ausgerufen haben und die "Geschichte der Bevölkerungskontrolle" (Connelly 2009) betrachten, stützt sich dieser Vortrag auf drei verschiedene empirische Geschichten, um die Kontinuitäten und Brüche zwischen der traditionellen staatlichen Biopolitik und den neuen Formen der reproduktiven Geopolitik aufzuzeigen. Wir argumentieren, dass das territoriale Management von Bevölkerungen in der Vergangenheit explizit als Bevölkerungspolitik formuliert wurde, während die Steuerung der Reproduktion in der Gegenwart eher implizit durch Regime der Gesundheitsversorgung, Migration und Arbeitspolitik erfolgt.
Demokratische Erosion
Prof. Dr. Natasha Wunsch
Zentrum für Europastudien, Universität Fribourg
20. März 2024
Die Krise der liberalen Demokratie ist in aller Munde. Während sich in der Zeit nach dem Kalten Krieg zunächst in einer „dritten Welle der Demokratisierung“ eine weltweite Ausbreitung der Demokratie als Regimeform zu beobachten war, hat sich diese Tendenz inzwischen in ihr Gegenteil verkehrt. Der Vortrag thematisiert das Phänomen der demokratischen Erosion, beschreibt dessen Ausprägungen anhand einiger Fallbeispiele in Europa und diskutiert, wie sich die derzeitigen Herausforderungen für die liberale Demokratie konkret auf die europäische Zusammenarbeit auswirken.
Immer wieder erschütternd – Langzeitfolgen wiederholter Gehirnerschütterungen
Prof. Dr. Inga Katharina Koerte
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München
27. März 2024
Die "Justinianische Pest". Probleme und Perspektiven bei der Erforschung einer historischen Pandemie
Die "Justinianische Pest". Probleme und Perspektiven bei der Erforschung einer historischen Pandemie
Prof. Dr. Mischa Meier
Seminar für Alte Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen
10. April 2024
Der Vortrag behandelt die 'Justinianische Pest' (541/42), indem nicht nur auf die literarischen Quellen geblickt wird, sondern auch demographische, wirtschaftliche und kulturelle Konsequenzen diskutiert werden. Ein besonderes Augenmerk wird auf der Forschungsgeschichte liegen, insbesondere mit Blick auf die aktuellen Diskussionen um DNA-Analysen und deren Potential für die Forschung zu historischen Epidemien.
Eine Spurensuche in den Trümmern des europäischen Grenzregimes: Von Selbstmord und anderen gewaltsamen Toden
Prof. Dr. Gerhild Perl
Abteilung Soziologie/Ethnologie, Universität Trier
24. April 2024
Das Mittelmeer gilt heute als eine der tödlichsten Grenzzonen der Welt. Um gegen das anhaltende Sterben an Europas Grenzen zu protestieren, wird der Trauer zunehmend ein politisches Potenzial zugeschrieben. Doch inwiefern hat Trauer die zeitgenössische Kritik an Grenzregimen neu konfiguriert und warum? Wie wird eine Politik der Trauer in anderen politischen Kämpfen konzeptualisiert? Und ist es möglich, um unbekannte Tote zu trauern? Diese Fragen sollen anhand einer ethnologischen Spurensuche zur komplexen Verflechtung von Affekt, Verlust und politischem Handeln im Kontext des europäischen Grenzregimes diskutiert werden. Aufbauend auf der ethnographischen Forschung zu transnationalen Solidaritätsbewegungen und der Theoretisierung unterschiedlicher affektiv-ethischer Antworten auf Verlust untersuche ich verschiedene Formen von Trauerpolitiken und lote ihre Grenzen aus.
Far-flung shocks: How tropical volcanic eruptions triggered societal crises in 17th century Northern Europe
Prof. Dr. Heli Huhtamaa
Historisches Institut, Universität Bern
1. Mai 2024
Large volcanic eruptions have substantial climate impact potential, and volcanic aerosol forcing is attributed as the main driver of summer temperature variability on interannual-to-decadal timescales before the industrial period. These volcanic-induced climatic disturbances can, in turn, cause severe societal consequences far away from the eruption location. For example, the climatic impacts of large 17th century eruptions triggered devastating famines across the northernmost Europe, such as the Russian famine of 1601–1603 (following the 1600 Peruvian Huaynaputina eruption) and the Ill Years of Scotland 1695–1697 CE (following the 1694 unidentified tropical eruption).
In general, previous research has focused on detecting similar large-scale societal crises following large volcanic eruptions: famines and dynastic collapses. Although these stories can be captivating, it may be difficult to distinguish the differences between coincidence and causation with such broad narratives. How much eruption-related climatic shocks on the one hand, and existing socio-environmental conditions and emerging human actions on the other, explain the detected human calamities?
Consequently, this talk assesses critically these eruption-climate-society causalities on various temporal and spatial scales, starting with the global climate system and ending with a single peasant farmer. By bringing a micro-historical perspective into discussion, this talk aims to demonstrate the importance of recognizing human agency when we are examining the societal consequences of abrupt and unexpected climatic shocks.
Das Ende der Sicherheit – Kunst oder Vermittlung zu Rassismen in der Schweiz?
Fatima Moumouni
Spoken Word Poetin, Zürich
8. Mai 2024
Grosse Erschütterungen und kleine Irritationen – Emotionen in Theater und Performance
Prof. Dr. Doris Kolesch
Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin
22. Mai 2024
Dem Theater wurden in Geschichte wie Gegenwart vielfältigste Funktionen zugeschrieben: von der Unterhaltung bis zur Erziehung, von der Belehrung bis zur Einübung sozialer Interaktion, von der politischen Repräsentation bis zur Vorführung und Darstellung gesellschaftlich-sozialer Ordnungen, Werte und Hierarchien reichen die Aufgaben bzw. Leistungen, die dem Theater zugetraut oder auch zugemutet wurden. Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Funktionszuschreibungen zieht sich eine Einschätzung nahezu konstant durch die Kulturgeschichte: Theater wird immer auch geradezu als eine Gefühlsmaschinerie verstanden, als ein Dispositiv sowohl der Vorführung und Darstellung von Emotionen (insbesondere, aber nicht nur auf Seiten der Schauspielenden) als auch der Erzeugung und des Erlebens von Emotionen (insbesondere, aber nicht nur auf Seiten des Publikums).
Der Vortrag unternimmt an ausgewählten Beispielen einen kulturhistorischen Streifzug durch den vielfältigen Zusammenhang von Theater und Emotionalität. Dabei konzentriere ich mich vor allem auf den Aspekt der Provokation und Erregung von Gefühlen im Publikum und diskutiere, wie schwierig diese zu erforschen sind und welche affektiven Dynamiken aktuelle Aufführungsformate zu initiieren vermögen. Dabei wird sich zeigen, dass die Sehnsucht nach dem großen, erschütternden Gefühl, das ein historisches Klischee im Kontext der Debatten um Theater darstellt, um die Beachtung vermeintlich kleiner Irritationen ergänzt werden sollte, die durchaus nachhaltig und reflexiv wirksam werden können.
Das neue Weltbild des Universums dank des James Webb Weltraumteleskops
Prof. Dr. Pascal Oesch
Département d'Astronomie, Université de Genève
29. Mai 2024
Die ersten Bilder des James Webb Weltraumteleskops (JWST), welche vor ca. 2 Jahren aufgenommen wurden, haben unsere Sicht auf das frühe Universum auf einen Schlag verändert. Mit seinen beispiellosen bildgebenden und spektroskopischen Fähigkeiten erweiterte JWST unseren kosmischen Horizont sofort in unbekanntes Gebiet, wobei Galaxien etwa 250–300 Millionen Jahre nach dem Urknall entdeckt wurden. Wir stehen also kurz davor, die ersten Galaxien zu finden, die im Universum je entstanden sind. Dieser Vortrag wird auch die weitere Entwicklung der frühen Galaxien erläutern und aufzeigen, wie sich die Galaxienpopulation über die letzten 13 Milliarden Jahren verändert hat. Dies hilft uns zu verstehen, wie sich unsere eigene Galaxie, die Milchstrasse, im Kosmos aufgebaut hat bis heute, und wie sie sich wohl in Zukunft weiterentwickeln wird.