«Digitale Lehre beleben: Das Beste aus beiden Welten»
Der Zeitpunkt hätte nicht treffender sein können: Wenige Tage nach der Aufhebung fast aller Schutzmassnahmen in der Schweiz und einer maskenlosen Rückkehr zum Präsenzunterricht drehte sich am 10. Tag der Lehre alles darum, was man hinsichtlich digitaler Lehre während der Pandemie gelernt hat und wie man künftig das Beste aus analoger und digitaler Welt vereinen kann. Bildungsforschende sind sich einig: Der reine Technologieglaube bringt die Hochschulbildung nicht voran.
Bericht: Neslihan Steiner, 2022
Auch im 10. Durchführungsjahr bleibt das Interesse am virtuellen Tag der Lehre ungebrochen gross: Über 350 interessierte Tagungsteilnehmende aus diversen Hochschulen haben sich angemeldet, um die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Hochschuldidaktik zu erfahren, rege zu diskutieren und sich inspirieren zu lassen, wie reflektierte, digitalisierte Lehre aussehen kann.
Beschleunigung von Digitalisierungs- und Veränderungsprozessen an Hochschulen
An der Universität Bern steht Digitalisierung an prominenter Stelle – und dies nicht erst seit Corona. Zu ihren Digitalisierungszielen gehört, dass sie ein Ort der Präsenzlehre ist, die passgenau mit digitalen Lehr- und Lernformen ergänzt wird. Ausserdem sollen Absolvent:innen befähigt werden, digitale Werkzeuge anzuwenden und deren Einsatz kritisch zu hinterfragen. Wie Prof. Dr. Fritz Sager, Vizerektor Lehre, in seiner Begrüssungsansprache betonte, geht es nicht nur darum, Digitalisierung in die Lehrpraxis hineinzutragen, sondern auch stark involviert zu sein in der Entwicklung neuer Instrumente für die digitale Lehre. So gehört die Universität Bern zu den fünf Gründungshochschulen von BeLEARN, einer Initiative, die in den Bereichen Digital Skills, Digital Tools und Data Science for Education die Brücke von der Forschung in die Praxis schlägt. Hier gestalten Pädagog:innen, Informatiker:innen und Ingenieur:innen unter einem Dach das Lehren und Lernen von morgen.
Datenbasierte Methoden in Theorie und Praxis
Für eine ganzheitliche Sicht auf die Digitalisierung der Lehre plädierte auch Thomas Tribelhorn, Leiter Hochschuldidaktik & Lehrentwicklung am Zentrum für universitäre Weiterbildung ZUW der Universität Bern. Um in diesem dynamischen Wandel zu bestehen, müssen Hochschulen laufend Veränderungsprozesse initiieren und kompetent begleiten. Ein Treiber für Change Prozesse ist Learning Analytics. Der von Prof. Dr. Ifenthaler (Universität Mannheim) aufgezeigte Forschungsbereich beschäftigt sich mit der Messung, Sammlung und Auswertung von Daten Lernender sowie deren Lernaktivitäten und seinen Kontexten mit dem Ziel, die Studierenden besser in ihren Lernprozessen zu unterstützen und diese schliesslich zu verbessern.
Trotz der grossen Aufmerksamkeit für das Thema in der Wissenschaft steckt die praktische Anwendung von Learning Analytics noch in den Kinderschuhen. Bislang existiert keine organisationsweite Implementierung von Learning Analytics Systemen. Die Daten sind zum Teil vorhanden, ebenso das Interesse, aber Hochschulen müssen Kapazitäten bereitstellen, um dieser aktuellen Entwicklung folgen zu können. Eine Datenbank alleine tut es nicht; gefragt ist eine Weiterentwicklung von universitären Systemen, Prozessen und nicht zuletzt des Personals.
Praxisbeispiele digitaler Lehre an der Universität Bern
Am Tag der Lehre wurden neben Konzepten und Modellen der digitalen Lehre auch konkrete Beispiele aus unterschiedlichen Fachbereichen der Universität Bern diskutiert:
Dr. phil. Natalie Borter vom Institut für Psychologie schilderte, wie sie mit Hilfe von Learning Analytics Lernende im Pflichtseminar «Psychologische Diagnostik» begleitet. Die Erhebung von Daten während des Unterrichts zielt darauf ab, den unterschiedlichen Vorkenntnissen und Bedürfnissen der Studierenden besser gerecht zu werden.
Felix Schmitz, PhD, vom Institut für Medizinische Lehre gab den Tagungsteilnehmenden einen Einblick in die digitale Lernplattform für patientenzentrierte Kommunikation im Gesundheitswesen. Als optimale Vorbereitung für die sehr kostspieligen und deshalb sparsam angebotenen Simulationspatienten-Trainings können Studierende mithilfe von Videos in einem geschützten Rahmen lernen, wie sie schwere Diagnosen überbringen können. Der Einsatz dieser Videos ist für eine hybride Unterrichtsform gedacht, damit die Studierenden bestmöglich vorbereitet an den Präsenz-Trainings teilnehmen können.
Dr. rer. soc., Dr. iur. Ann Krispenz vom Institut für Erziehungswissenschaft präsentierte nach dem Flipped Classroom Ansatz ein gelungenes Beispiel für einen digitalen Leistungsnachweis. Auch ohne Präsenzprüfung konnten Studierende motiviert werden, die Lerninhalte gleich anzuwenden.
Den vielseitigen Einsatz digitaler Formate zeigte Dr. med. Alexander Grahofer vom Departement für klinische Veterinärmedizin. Als Teil der praktischen Veterinärausbildung werden 360-Grad-Lernvideos eingesetzt, die selbstgesteuertes und interaktives Lernen ermöglichen und somit die Motivation und den Lernerfolg erhöhen.
Die Präsentierenden sind sich einig, dass die Planung und Produktion digitaler Lehrkomponenten zeitlich und preislich einen grossen Aufwand bedeutet, der sich aber durch den mehrmaligen Einsatz langfristig auszahlt.
Expo Digital Teaching Universität Bern
An einer digitalen Ausstellung erhielten die Teilnehmenden durch kurze Präsentationen oder Demonstrationen Einblick in innovative Digital-Teaching-Projekte der Universität Bern. Die Projektthemen reichten von Grafik, Design und Animation in 3D, über interaktive Erklärvideos & Gamification bis hin zu diversen interaktiven Tools.
- Das Team von Michael Rihs vom Institut für Psychologie gab Einblick in digitale Welten mittels Blender und Virtual Reality.
- Wie man attraktive und interaktive Lerninhalte zu wissenschaftlich und gesellschaftlich aktuellen Themen kreieren kann, zeigten David Yela und Team vom iLUB.
- Mit dem Fokus auf lebenslanges Lernen, die Digitalisierung und damit verbundene Veränderungen, wird was und wie wir lernen, immer wichtiger. Julia Hegy vom Institut für Psychologie stellte ein neues Online Lernprogramm zu selbstreguliertem Lernen vor.
- Selbstreguliertes Lernen ist auch zentral beim Projekt «Studybuddy», ein interaktives Tool zur Lernunterstützung, vorgestellt durch Dr. phil. Mejeh vom Institut für Erziehungswissenschaft
- Sevgi Isaak vom iLUB und die eCoaches der Universität Bern präsentierten ihre Ergebnisse aus der Zusammenarbeit mit den zugeteilten Dozierenden. Interessierte erhielten Inputs zu Videos, Online-Kursräumen, interaktiven Lerneinheiten, aktivierenden Methoden für die Präsenz, Tipps & Tricks aus der Zusammenarbeit und vieles mehr.
- Dr. phil. Natalie Borter vom Institut für Psychologie machte eine Demo von Qualtrics für Übungsaufgaben und zeigte auf, wie in ihrem Projekt individualisierte Rückmeldungen umgesetzt wurden.
- Das Team der Hochschuldidaktik ZUW präsentierte mit SELEVOR ein niederschwelliges Selbstanalyse-Tool zur Erfassung der Qualität von Lehrvorträgen.
Altes mitnehmen, Neues mitdenken
Für die Zeit nach der Pandemie gilt es, reflektiert und ganz bewusst auf Präsenz-Unterricht oder eine digitale Form zu setzen. Digitale Anwendungen und Ansätze wie Podcasts, Video-Streaming, Flipped Classroom, Blended Learning oder Gamifizierungslösungen sollten eingesetzt werden, um die Qualität der Lernerfahrung zu steigern. Dabei ist jeweils die Frage zu stellen, welche Kommunikationsprozesse synchron sein müssen und welche asynchron sein können.
Warum es nicht reicht, neue Technologie auf ein veraltetes Bildungsverständnis zu stülpen, hat Axel Krommer (Universität Erlangen-Nürnberg) in seinem begeistert aufgenommenen Abschlussreferat den Zuhörenden eindrücklich vor Augen geführt. Mit palliativer Didaktik beschrieb er die Ummantelung alter pädagogischer Prinzipien und lerntheoretischer Konzepte durch digitale Technik. Bildschirmüberwachungen mittels sogenannter Proctoring-Programme bei Online-Prüfungen hält er für höchst problematisch und plädiert für ein neues Verständnis von Leistung, für zeitgemässe Lernnachweise und das Infragestellen von Noten. Solange unter Präsenz Kontrolle verstanden wird, befinden wir uns auf dem Holzweg. Seine Empfehlung lautet: «So viel Vertrauen und Freiheit wie möglich, so viel Kontrolle und Struktur wie nötig.»
Zur Veranstaltung
Der «Tag der Lehre» ist eine Kooperation von Hochschuldidaktik & Lehrentwicklung des ZUW und Vizerektorat Lehre. Er hat zum Ziel, die «gute Lehre» an der Universität Bern zu stärken, und wurde
erstmals im Jahr 2013 durchgeführt. Seither gehört der «Tag der Lehre» zum jährlichen Hochschuldidaktik-Programm und findet jeweils am letzten Freitag vor Beginn des Frühlingsemesters statt.
Mehr zum 10. Tag der Lehre
Zur Autorin
Neslihan Steiner ist Mitarbeiterin der Stabsstelle Kommunikation des Zentrums für universitäre Weiterbildung ZUW.