Herausfordernde Zeiten

Beitrag: Thomas Wild, Dezember 2023

Wer die KI fragt und bei bard google den Titel dieses Beitrags eingibt, erhält folgende Antworten (28.11.2023):

«Herausfordernde Zeiten sind Zeiten, in denen wir mit Schwierigkeiten und Herausforderungen konfrontiert werden. Sie können durch äussere Faktoren wie Kriege, Naturkatastrophen oder wirtschaftliche Krisen verursacht werden, oder aber durch innere Faktoren wie persönliche Verluste, Krankheiten oder psychische Belastungen. Herausfordernde Zeiten können eine grosse Belastung für uns sein. Sie können uns Angst, Stress, Unsicherheit und Verzweiflung bereiten. Sie können uns auch dazu bringen, an uns selbst und unseren Fähigkeiten zu zweifeln. Es ist wichtig, sich in herausfordernden Zeiten bewusst zu machen, dass wir nicht allein sind. Viele Menschen erleben im Laufe ihres Lebens herausfordernde Zeiten. Es gibt auch viele Ressourcen, die uns helfen können, diese Zeiten zu bewältigen.»

Bis dahin eine angemessene und besonnene Antwort, meine ich. Allerdings: Eine der Herausforderungen zurzeit ist, dass wir es häufig mit einem äusserst fragilen System von Menschen zu tun haben. Irgendwie sind wir gerade alle «seelisch» anfällig aufgrund von individuellen Dispositionen, politischen Entwicklungen, der globalen (Klima-) Krise und den kriegerischen Konflikten.

Wir bangen, hadern und hoffen wie vielleicht nie zuvor.

Haben wir An- oder Zugehörige, Freundinnen und Freunde, die sich in einer akuten Krise befinden, oder gar persönliche Kontakte zu Menschen in Krisengebieten, potenziert sich die Betroffenheit nochmals. Wir bangen, hadern und hoffen wie vielleicht nie zuvor. Die existentielle Verbindung und die persönlichen Beziehungen zu Menschen in Krisen machen uns bewusst, wie hilflos wir sind. Die Willkür, mit der Geschehnisse in das Leben von Individuen oder Gruppen einbrechen, bringen auch unser Welt- und Selbstbild durcheinander. Schon die Corona-Pandemie hat uns gezeigt: Persönliche Widerfahrnisse sind in gesellschaftliche Kontexte eingebettet. Die Pandemie hat aber auch sichtbar gemacht, dass seelische Unterstützung in aktuellen Krisen eine wichtige Orientierungsmarke darstellt. Zwischenmenschliche Unterstützung ist notwendig, weil es überall an supportiven Angeboten fehlt. Wir alle sind in Krisensituationen gefordert, einander «seelsorgliche» Unterstützung anzubieten: Niederschwellig, breitgefächert und grosszügig.

Wir alle sind in Krisensituationen gefordert, einander 'seelsorgliche' Unterstützung anzubieten: Niederschwellig, breitgefächert und grosszügig.

Im Bereich Seelsorge und Pastoralpsychologie wird zwischen Kriseninterventionen und Krisenbegleitungen unterscheiden. Interventionen in Akutsituationen fordern notfallpsychologisches oder notfallseelsorgliches Knowhow, das in spezifischen Ausbildungen erlernt und eingeübt wird. Dabei geht es primär darum, Menschen nicht alleine zu lassen, sie zu stabilisieren und in die Selbstwirksamkeit zurückzuführen. Fragen danach, was sie erlebt haben, kann helfen, das Erlittene in Worte zu fassen und sich den Irrsinn vom Leib zu reden. Seelsorge in akuten Krisensituationen geht aber weit über Worte hinaus und hat oft einen diakonischen Charakter – etwa, primäre Bedürfnisse zu stillen, Kontakte herzustellen und Orte der Sicherheit zu finden. Das «doing loss» (Andreas Reckwitz), die Aufarbeitung von Verlusterfahrungen, bedarf häufig professioneller Begleitung. Allgemein gilt hier die Umkehrung des bekannten Sprichwortes: Reden ist Gold! Indem wir Erlittenes besprechen und einander an unserer Betroffenheit teilhaben lassen, lösen wir uns aus dem Zustand der ersten emotionalen Erstarrung. In der Trauer über die Vorstellung, dass die Welt so schrecklich sein kann, dass dies gerade Dinge der Unvorstellbarkeit sind, entsteht eine Selbstvergewisserung. Ich werde mir der Verbindung zu mir, zum Mitmenschen und zu dieser Welt bewusst, wenn auch auf schmerzliche Weise.

In Krisenbegleitungen geht es darum, den Verletzungen und der Verletzlichkeit Raum zu geben. Krisen legen unsere Verwundbarkeit offen, zerstören Gewissheiten und konfrontieren uns mit unseren regressiven und progressiven Anteilen. Wichtig scheint mir, dass die ganze Palette von Empfindungen und Reaktionen, von Verzweiflung bis zur Wut, gezeigt werden darf. In uns wohnen sowohl das schutzsuchende Ich des Kindes als auch das aktive, «er-wachsende» Ich, das aufbricht und nach neu zu gestaltenden Räumen sucht. Beides verdient, gesehen zu werden.

Immer und überall sind wir gefragt zu entscheiden, ob wir uns schützen und abgrenzen oder ob wir uns vernetzen und engagieren.

Kriseninterventionen und Krisenbegleitungen haben letztlich immer emanzipatorischen Charakter – mit dem Ziel, Menschen zu entlasten und/oder zu ermächtigen. Gerade in herausfordernden Zeiten können wir einander von selbst auferlegten und internalisierten Pflichtgefühlen befreien. Das reicht von materiell überhöhten Geschenkkulturen über familiär überbelastete Feierlichkeiten bis hin zur Frage, was wir uns an Informationen zumuten. Selbstsorge ist hochsensible Beziehungsgestaltung –mit mir und meiner Verfasstheit –, die die Fähigkeit zu Selbstreflexion voraussetzt. Auch Unbewusstes (Gefühle), Vorbewusstes (Ahnung, Intuition) und Imaginatives (z.B. Träume) gehören dazu. Oder Trauer zulassen können, Risiko- und Resilienzfaktoren kennen und lernen, Grenzen und Gefühle zu respektieren. Immer und überall sind wir gefragt zu entscheiden, ob wir uns schützen und abgrenzen oder ob wir uns vernetzen und engagieren. Oder etwas pathetischer: Die Umstände, die uns zufallen, werfen stets die Frage auf, was es heisst, Mensch zu sein.

Zum Autor

Dr. theol. Thomas Wild ist Geschäftsleiter der Aus- und Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie AWS Schweiz an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.